Kurt Hörbst

Ückendorf_scans

Kurt Hörbst ist überzeugt davon, dass sich auf Oberflächen charakteristische Merkmale einschreiben. Er startete 2003 das Langzeitprojekt Landscape Scans, welches eine Art Vorstudie zu seinem aktuellen Projekt People Scans bildet. Orte, deren einmalige Situation, Tradition und Kultur haben in seinen Augen einen starken Einfluss auf die Menschen die dort aufwachsen und leben.
Mit diesen Vorstellungen zeichnet sich Kurt Hörbst als Mensch des letzten Jahrhunderts aus. Ihn verbindet diese Idee mit den avantgardistischen Projekten aus den 1920er und 1930er Jahren, die man mit Schlagworten wie Modernität, Mobilisierung, Beschleunigung, Technisierung beschreibt. Die Umschreibungen bergen sowohl die Idee von Aufbruch und Veränderung, als auch zugleich Anklänge von Verunsicherung und Skepsis. Das ist nicht verwunderlich, denn es ist eine Zeit, in der wie in kaum einer anderen Epoche, eingebettet zwischen zwei katastrophalen Weltkriegen, um neue gesellschaftliche Modelle gerungen wurde, Reformen und Traditionen gegeneinander ausgelotet und hinterfragt wurden und dem subtilen Gefühl nachgegangen, ob Fortschritt nicht auch gleichzeitig ein Schritt in die falsche Richtung bedeuten könnte. Es geht ums Leben (und Überleben) des Menschen in einer durch die Technik und die Verdinglichung bestimmten Welt. 2006 begann Hörbst mit dem Projekt People Scans und selbst wenn sich die Problematiken der heutigen globalisierten Welt ganz anders manifestieren, so kann man diese Epochen-Beschreibung aus den 1920er Jahren fast 1:1 in die unsere Zeit übertragen.

Das gespiegelte Antlitz der Zeit fand sich in der fotografischen Praxis der 20er und 30er Jahre wieder. Wie kaum ein anderes Bildmittel ist die Fotografie mit den Entwicklungen in diesen Jahrzehnten des Umbruchs verzahnt, ist von ihnen abhängig und reflektiert sie im gleichen Zug. Der Mensch stand im Fokus des aufbrechenden fotografischen Interesses und das Motiv Mensch wurde zum Gradmesser der Veränderung, an ihm versinnbildlichten sich Visionen, es wurden moderne Tendenzen aufgezeigt, Gesellschaftsfragen analysiert und dokumentiert, Erfolgsgeschichten erzählt, soziale und politische Problematiken verhandelt. Gleichzeitig wird die fotografische Praxis ausgehend vom Atelierbild bis hin zur experimentellen Fotografie erweitert und entwickelte sich zum eigenständigen Bildmedium, welches losgelöst von anderen Kunstformen zu einer eigenen Sprache findet. „Als alles, was Kunst heißt, an Rheumatismus erkrankt war, zündete der Fotograf seine tausendkerzige Lampe an“ , schreibt Tristan Tzara 1922.

Das Aufkommen der Illustrierten Presse verbreitet dieses Neue Sehen in die Welt und es entstanden fotografische Projekte, die in enger Verbindung zu Hörbst People Scans zu sehen sind. August Sander veröffentlichte 1929 seine sechzig Arbeiten umfassendes Porträtkompendium Antlitz der Zeit. Es ist ein fotografischer Querschnitt durch die Gesellschaft der Weimarer Republik und der Versuch anhand von sachlichen, individuellen Menschenbildern Zugehörigkeiten, Außenseiter, Stände und Entwicklungen sichtbar zu machen. „Mit Hilfe der reinen Photographie ist es uns möglich, Bildnisse zu schaffen, die die Betreffenden unbedingt wahrheitsgetreu und in ihrer ganzen Psychologie wiederzugeben.“ , schreibt er 1925 an den Fotochemiker und Fotohistoriker Erich Stenger. Die unmittelbare Beobachtung des Menschen und seiner Lebensverhältnisse ist ein Stichwort, welches Sanders methodische Vorgehensweise charakterisiert, die neben der Betrachtung von Einzelpersonen oder Gruppen, der Frage nach einer wechselseitigen Einflussnahme von Mensch und Gesellschaft nachgeht. In seinem Brief formuliert Sander einen positivistischen Anspruch an die Fotografie, der stellvertretend für andere Fotografen gelten kann, etwa für Albert Renger-Patzsch, Hugo Erfurth und auch Kurt Hörbst, dessen Menschbildnisse in der Idee diesem Ansatz folgen.

Vom Fotografischen ausgehend muss man zum Verständnis der People Scans noch ein Jahrhundert weiter zurückgehen, in die Frühzeit des Mediums, Mitte des 19. Jahrhunderts. Als Produkt des bürgerlichen Zeitalters und der industriellen Revolution stellt die Fotografie ein Zwitterwesen dar, das dem unaufhörlichen Diskurs zwischen Naturwissenschaft, Technik und Kunst widerspiegelt. Ewiger Stein des Anstoßes und gleichzeitig stete Faszination ist die technische Herkunft der Bilder.
Die Detailgenauigkeit, die momenthafte Erstarrung aber auch die unmittelbare Nähe sind Kennzeichen, die bereits in den Anfängen der Fotografie rezipiert wurden.

William Henry Fox Talbots Pencil of Nature steht am Beginn einer sich rasant ausbreitenden Bilderwelt, die in den darauffolgenden Jahren alle Lebensbereiche durchdrang und erfasste und die Voraussetzung zur Konstruktion einer zweiten zeichenhaften Natur schaffte. In dieser Zeit haben die beiden schottischen Landschaftsmaler und Lithographen Octavius Hill und Robert Adamson erste fotografische Studioporträts gemacht. Sie erhielten den Auftrag ein Bild zu schaffen auf dem alle 450 Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung der „Free Church of Scottland“ zu erkennen wären. Sie erkannten die Fotografie als schnelle Möglichkeit des Aufzeichnens, um diese enorme Anzahl zu bewerkstelligen. Das Ergebnis war eine Collage von fotografischen Einzelbildern.

In seinen frühesten Anfängen hatte das Studio die Aufgabe ein großes Defizit der Fotografie wettzumachen, nämlich die Langsamkeit. Deren Überwindung durch entsprechende Sitzmöbel, die den Kopf fixierten und Haltepulte, die neben dem dekorativen Charakter vor allem dazu dienten die Standhaftigkeit des Posierenden zu stabilisieren, findet man bis in die Zeit der Jahrhundertwende. Gleichzeitig entwickelt sich durch diese notwenige Installation eine Art Stereotyp des gewerblichen Studioportraits.

Die Arbeiten von Kurt Hörbst lassen sich mit diesen Diskursen verbinden. Zum einen versteht er seine Serien, als Gesellschaftsbeschreibungen, betitelt sie nach dem jeweiligen Entstehungsort wie Venedig, Wien, Beijing oder eben Ückendorf, die Namen der Porträtierten subsumieren sich darunter. Er versucht Orte und Handlungen, wie etwa auch den Pilgerweg, durch das Menschenbildnis zu verstehen und zu vermitteln. Dafür entwickelte er eine Bildmethode, die immer gleichbleibend ist und an jedem Ort gleich ausgeführt wird. In einem provisorischen Studio installiert er eine Art weiße Box auf dem Boden, in die sich der Porträtierte hinein legt. Die Kamera ist an einem Gestell darüber montiert und nimmt Stück für Stück, in 20 Aufnahmen hintereinander geschaltet, die Personen auf. Anders als in einer klassischen Studiosituation, in der sich Fotograf und Sitter durch die Kamera begegnen, lenkt Hörbst die Kamera lediglich. Seine Modelle sind alleingelassen, kommunizieren eher mit sich selbst, als mit einem Gegenüber. Die Frage, wer will man sein und wie wird man im Bild gesehen, scheint hier noch eklatanter zu sein, weil es keinen Respons, keinen Blickkontakt, im Moment der Aufnahme gibt.

Hörbst selber spricht nicht von Fotografie, sondern von Scans und betont damit den technischen, mechanischen und neutralen Ursprung der Arbeit, worin man eine Verbindung zur Vorgehensweise im 19. Jahrhundert erkennen kann. Auch die Ausrichtung der Person und die Verwendung von Hilfsmitteln, wie etwa die einer Kopfstütze und das Arrangieren von Requisiten, erinnert an die Zeit, als die Fotografie noch ein langsames schnelles Medium war.

Wenn Kurt Hörbst nun eine Serie in Ückendorf anfertigt, dem Stadtteil von Gelsenkirchen, in dem auch Pixelprojekt_Ruhrgebiet, die Künstlersiedlung Halfmannshof, der Wissenschaftspark Gelsenkirchen und auch Fußballvereine beheimatet sind, dann beschäftigt er sich mit einer Gesellschaftstruktur, die ihren Anfang zur Zeit der Industrialisierung nahm und bis in unsere heutige Zeit nachwirkt. Es ist eine begrenzte Welt, so kleinteilig wie vielleicht August Sanders Bauern aus dem Westerwald. Die Serie aus 22 Bildern unterscheidet sich von vorherigen wie etwa Wien, Venedig und Moosburg, dass weniger folkloristisch ist oder anders ausgedrückt Trachten, die eine eindeutige regionale Zuordnung zulässt, nicht wiedergibt. Die Menschen in Ückendorf kommen aus allen Teilen der Welt, wie man an ihren Namen ablesen kann. Aber das Ruhrgebiet war und ist immer schon Einwanderungsgebiet gewesen, so dass selbst Personen mit exotischen Namen keine Fremden sein müssen.
Ein Schumacher, ein Pater, ein Vater, eine Musikerin, ein Musiker, eine Malerin, ein junger Fußballspieler, ein Fußballfan und eine Reihe von Menschen, die ihre Profession oder Leidenschaft hinter den neutralen Attributen der Kleidung für sich behalten, werden aufgenommen. Es gibt nicht 'das' Gesicht für Ückendorf, die Serie ist vielseitig aber nicht spezifisch.

Dennoch gibt es ein Porträt, welches ein wenig aus dem Rahmen fällt und etwas mehr sagt, zum einem über den Akt des Scannens, als auch über die Region. Heinz Stein ist ein älterer Mann mit weißen Socken und bunter Seidenfliege, dem die Brille ein wenig ins Gesicht gefallen ist. Die Hose wirkt praktisch und gemütlich zugleich, obwohl sich der Fotografierte wohl nicht so fühlen mag, denn das Gesicht wirkt angespannt, genauso wie die Hand, die er auf sein Sakko gelegt hat. Der Wunsch den besten Eindruck abzugeben steht ihm ins Gesicht geschrieben und macht das Bild zum persönlichsten und anrührendsten der ganzen Serie. Die Tatsache, dass sich Heinz Stein diesem Prozess ausliefert und dafür so etwa wie seinen Sonntagsstaat angezogen hat, geschieht nicht allein wegen des Bildes, sondern um für diesen Ort insgesamt ein repräsentatives Bild abzugeben, in dem er beheimatet ist. Man kann das auch Solidarität nennen und trifft damit einen Aspekt, den das Ruhrgebiet seit der ersten Bergbauindustrie, zu Eigen ist und auszeichnet.

Ob Kurt Hörbst diese Solidarität in seinen Ückendorf-Scans aufgespürt hat oder ob für ihn als Regisseur der Bilder andere Aspekte im Vordergrund standen, ist offen, denn wie alle Bilder, breiten auch diese ihre Wirkungskraft unterschiedlich im Auge des Betrachters aus. Hörbst schafft mit seinen People-Scans so etwas wie einen Atlas verschiedener regionaler Gesellschaftsstrukturen, in dem Ückendorf neben Wien, Venedig und Beijing nun eine eigene Seite hat.

Christiane Kuhlmann
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