Brigitte Kraemer

So nah - so fern

Ich nehme mir Zeit //

Zeit. Ja, das ist vielleicht das Wichtigste, wenn man Menschen fotografieren will, die ganz bei sich sind. Ohne vordergründige Pose, ohne aufgesetztes Lächeln, ohne eine aufwendige Inszenierung mit Licht und Hintergrund. Wenn ich fotografiere, richte ich mein Interesse auf gewöhnliche Alltagssituationen. Sie müssen sich „ergeben“ und dafür braucht man Zeit. Als ich 1985 mit meinem ersten großen Projekt zum Thema „Ausländer“ begann, schenkte mir ein Stipendium der Ruhrlandstiftung diese Zeit. Ein Jahr lang konnte ich einen Schwerpunkt auf dieses Projekt legen, ohne ständig durch andere Aufträge abgelenkt zu sein. Die Kontakte, die damals zu verschiedenen ausländischen Familien entstanden sind, bestehen heute noch. Die Kinder von damals haben inzwischen eigene Familien gegründet. Aus einer Familie sind vier oder fünf Familien geworden und ich finde es spannend, diese Entwicklung zu beobachten. Die neuen Wohnungen, die sich die Jungen eingerichtet haben, sind schon viel moderner und „deutscher“ als die kleinen Zechenhäuser ihrer Eltern, wo immer ein Stück Garten dabei sein musste für das heimatliche Lebensgefühl in dem fremden Land.

In den Gärten habe ich meistens die ersten Kontakte geknüpft. Wenn Familien und Nachbarn beim Grillen zusammen saßen, wenn Teppiche geschrubbt wurden, wenn Kinder in trostlosen Hinterhöfen unter der Bewachung ihrer Mütter aufregende Spiele erfanden. Ein kleines Gespräch war immer willkommen und wenig später kam unweigerlich die Einladung zu einer Tasse Tee und schon war man mittendrin. Mittendrin in einem anderen Lebensgefühl, fast wie im Urlaub. Es fängt schon mit dem Essen an. Immer gibt es etwas zu essen, egal zu welcher Tageszeit man kommt. Spätestens nach einer halben Stunde sitzt man am gedeckten Tisch. Yoghurtsuppe mit Mais. Grüne Bohnen in Tomatensoße. Hähnchen und Süßigkeiten. Alles ist da. Zwischendurch klingelt es, die Nachbarin kommt, ein Onkel oder die alte Frau aus dem Haus gegenüber. Für alle gibt es etwas zu essen. Wie machen die das bloß? Keinen Hunger haben gilt nicht. Das wäre schon fast eine Beleidigung. Also richte ich mich darauf ein. Wenn ich bei „meinen“ Familien vorbeischaue, komme ich möglichst mit leerem Magen. Längst haben sie vergessen, dass ich eigentlich Fotografin bin. Wenn ich zwischendurch auf den Auslöser meiner Leica drücke, wird das kaum beachtet. Es gibt Wichtigeres: Die bevorstehende Hochzeit des Sohnes, das Formular vom Wohnungsamt, das Kündigungsschreiben der Firma. Ganz selbstverständlich werde ich in solchen Angelegenheiten um Rat gefragt und eingespannt. Diese Selbstverständlichkeit gefällt mir. Wenn es möglich ist, gehe ich als Begleitung mit zu den Ämtern. Ämter sind immer bedrohlich, weil hier andere Regeln gelten. Warten in unfreundlichen Räumen und Papierkram ohne Ende. Wenn ich keine Zeit habe, kommen sie auch ohne mich klar. Das ist beruhigend.

Bei meinen Besuchen bringe ich meistens die Fotos vom letzten Mal mit. Sie werden unter den gerade Anwesenden herumgereicht. Auch die Kleinkinder dürfen sie mal in die Hand oder in den Mund nehmen. Dann werde ich doch ein wenig unruhig und denke an die Stunden, die ich beim Vergrößern in der Dunkelkammer verbracht habe. Zum Schluss werden die Fotos aber dann ganz achtsam in einer Kiste verstaut, wo schon die Stapel aus den letzten Jahren liegen. Manchmal betrachten wir zusammen den angesammelten Schatz und wundern uns wie alle gewachsen sind und sich verändert haben. So entsteht mit der Zeit über jede Familie ein richtiges Archiv. Wie werden wohl die Bilder in zehn Jahren aussehen? Vieles geht verloren. Zum Beispiel das Selbermachen von all den Sachen, die wir Deutsche irgendwo als Sonderangebot für ein paar Mark kaufen. Brot muss selber gebacken werden sonst ist es kein Brot. Neulich kam ich, als eine Familie gerade mitten im Umzug war. Die Wohnung war schon ausgeräumt und in der leeren Wohnung rollten die Frauen ganz seelenruhig den Teig aus. Sie denken da ganz praktisch: Warum die neue Wohnung schmutzig machen, wenn wir hier noch in aller Ruhe Brot backen können. Stapelweise haben sie die Fladenbrote gebacken, mitten im Umzug. So etwas ist doch für uns unvorstellbar. Diese Situationen faszinieren mich. Keiner nimmt Notiz, wenn ich dann ab und zu meine Kamera zücke. Der eine tut dies, der andere das, so ist das Leben.

Dass Fotografieren ein Beruf ist, können sie sich sowieso kaum vorstellen. Manchmal erzähle ich etwas über meine Arbeit, aber das ist im nächsten Augenblick schon vergessen. Die Sonne scheint, ein idealer Tag um die Schafwolle zu waschen und zu trocknen. Bettdecken aus selbstgemachter Schafwolle kann man nicht kaufen. Sie geben das sichere Gefühl, dass die Entfernung zu dem Dorf in der Türkei gar nicht so groß ist. Darauf kommt es an: Nicht wo man lebt, sondern wie man lebt. Auch wenn man nicht aufhalten kann, dass „die Jungen“ sich immer mehr vom alten Leben entfernen. Das ist eben der Preis, den man bezahlen muss, weil man weggegangen ist. Aber die Feiern müssen nach alter Tradition stattfinden. Beschneidungsfeste, Opferfest, Hochzeit. Und dann ist es wie daheim, das ist man der alten Heimat schuldig.

Die Familien aus der Türkei gehören zu unserem Leben im Ruhrgebiet. Überall gehören sie dazu, egal mit welchem Thema ich mich gerade beschäftige. Straßenbahn, Rhein-Herne-Kanal, Zechensiedlungen. Möglich, dass ich sie anders und bewusster wahrnehme als andere Fotografen, weil sie mir vertraut sind und ich ihr Leben „drinnen“ gut kenne. Dieses eigene Leben im anderen Leben ist es, was mich fasziniert. Aber dem komme ich nur nahe, wenn ich mich den Menschen selbst nähere. Wenn ich mich auf ihr Leben einlasse und die kleinen und großen Aufregungen, die jeder Tag mit sich bringt, mit ihnen teile. Bei den vielen Festen interessiert mich mehr das „davor“, weniger die Feste selber, die immer nach den gleichen Ritualen ablaufen. Die nervöse Braut, die von den anderen Frauen herausgeputzt wird. Der Junge, der in seiner Festtagsuniform am liebsten weinen möchte, weil er Angst vor der Beschneidung hat. Das sind die wichtigen, authentischen Augenblicke. Dokumente eines Lebensgefühls. Ich bin nicht mehr Außenstehende, sondern nehme einen Teil davon in mein eigenes Leben mit.
Einmal habe ich eine Familie zur Hochzeitsfeier in die Türkei begleitet. In ein Bergdorf irgendwo am Schwarzen Meer. Ich wollte wissen, wo sie herkommen, wie man da lebt und habe als Gast zwei Wochen in der Familie gelebt. Das Fotografieren war Nebensache, aber gerade in diesem „Nebenbei“ entstehen die Bilder, die ich suche. Dabei hilft mir, dass ich keinen technischen Aufwand betreibe. Meine Leica ist immer griffbereit, mehr brauche ich nicht.

Neben der großen Gruppe der türkischen Einwanderer gibt es natürlich noch die vielen Nationalitätengruppen, die es aus den unterschiedlichsten Gründen hierher verschlagen hat. Mitte der 80er Jahre, als ich mich zum ersten Mal gezielt mit dem Thema „Ausländer im Ruhrgebiet“ beschäftigt habe, kamen gerade sehr viele Tamilen als Asylbewerber nach Deutschland. Das war auch die Zeit der Spätaussiedler aus Polen und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Damals habe ich über eine längere Zeit im „Auffanglager“ in Unna-Maassen fotografiert. Mitte der 90Jahre traf ich dann in den Asylbewerberheimen vor allem Albaner und Roma aus dem Kosovo. Die ersten Bilder, die damals entstanden sind, haben inzwischen historischen Charakter. Sie spiegeln Geschichte und Politik in ihrer Auswirkung auf einzelne Menschen. Viele Träume sind verloren gegangen, einige haben sich erfüllt.

Wenn ich fotografiert habe, bin ich immer wiedergekommen. So sind Beziehungen entstanden, mal für kurze, mal für eine ganz lange Zeit. Ich habe viele erstaunliche Sachen erlebt und fotografiert. Zum Beispiel eine indische Hochzeit. Die ganze Sippschaft ist nach Schwerthe gefahren, weil es dort einen indischen Tempel gab. Wir kamen zu einem Asylbewerberheim, so trostlos wie alle anderen. Aber unten im Keller war dieser indische Tempel mit wunderbaren Ornamenten, Räucherstäbchen, Kokosnüssen. Auf einmal bist Du in Indien. Die Frauen tragen ihre Saris und auch der Geistliche in einer wunderbaren Tracht. Es überrascht mich immer wieder, wie diese Menschen es schaffen, ihre eigene Kultur so authentisch aufrecht zu erhalten.

Ich habe keine fertigen Bilder im Kopf. Ich bin dabei, schaue und eine Situation entwickelt sich. Und dann entstehen Kompositionen, die etwas vom Leben erzählen.
© Sämtliche Nutzungsrechte an den abgebildeten Fotografien liegen bei Brigitte Kraemer

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