Robert Freise

Monti's Dream

Plötzlich waren sie da.

In der Nacht hatten sie ihre Circuswagen wie eine Trutzburg um sich herum aufgebaut. Das alte Autohaus, was schon seit langem leer stand, nahmen sie in Beschlag. Ein ideales Winterquartier für sich und ihre Tiere.

Mit einer kleinen Notlüge bekamen sie die Erlaubnis, ihren Circus für ein paar Tage dort abzustellen. Schnell wurde aber allen klar: Das dauert länger. Sie wussten ganz genau, der Abtransport ihrer über ein Dutzend Wagen würde die Stadt oder den Grundstücks-Eigentümer ein Vermögen kosten. Wasser konnte nicht abgesperrt werden, und Strom wurde irgendwie organisiert.
Die Presse war dementsprechend, und die Circusleute schotten sich immer mehr ab. Das ganze beobachtete ich schon eine ganze Weile, und ich war gespannt wie es ausging.
Die ersten Kontaktversuche waren enttäuschend. Sie wollten mit Fotografen nichts zu tun haben auf Grund ihrer schlechten Erfahrungen mit der Tagespresse.

Etwa einen Monat lang ging ich immer wieder hin und zeigte ihnen verschiedene Arbeiten von mir und sprach mit ihnen; so langsam fassten sie Vertrauen. Sie erzählten, dass in der ersten Nacht auf dem Platz des Autohauses der Wagen der alten Prinzipalin angezündet wurde. Er brannte innen vollkommen aus. Sie selbst lag schon seit einiger Zeit bettlägerig im Küchenwagen und wurde von allen Familienmitgliedern liebevoll versorgt. Selten habe ich solch einen Familienzusammenhalt gesehen. Sie hatten ja auch nur sich und ihre Tiere.

Es gab drei Kamele, einige Pferde, ein Lama, zwei kleine Hunde, ein Esel und Ponnys. Die Circusfamilie bestand aus drei Familien. Sie selbst mit ihrer kranken Mutter und jeweils die Familien der beiden Kinder mit ihrem Nachwuchs sowie zwei noch nicht verheiratete Söhne, die einen eigenen Wagen bewohnten.

Als neutraler Treffpunkt für Fremde fungierte der Küchenwagen. Die privaten Wohnwagen sind für Außenstehende tabu.
Die Hirachie in der Circusfamilie ist klar geregelt, Monti hat das Sagen und kümmert sich um die Suche nach neuen Plätzen. Seine Frau regelt das Finanzelle und kümmert sich um die Behörden. Die Söhne sind für die Versorgung der Tiere und den Auf– und Abbau des Zeltes zuständig. Die Kleinen führen anstandslos alle aufgetragen Arbeiten aus. Aus Außenstehender ist man immer wieder Überrascht, wie klaglos und ohne großes Gerde das ganze abläuft. Auch habe ich in der ganzen Zeit nie gesehen, dass jemand Alkohol trinkt.

Finanzell geht es dem Circus sehr schlecht. Alle Arbeiten an den Wagen und am Zelt werden selbst ausgeführt. Von Lackieren bis über die Restaurierung ganzer Lkw, die in der großen Halle des leerstehenden Autohausen dann auch über den Winter gemacht wurden. Falls es nicht ausreichte, gingen die Kinder mit einer Sammelbüchse von Tür zu Tür. Was mich überraschte, war die Spendenfreude der Anwohner. Sie gaben altes Brot, Gemüse und Obst für die Tiere. Als Sammebehälter diente ein alter Wagen eines Supermarktes. Ein Streuobstwiesen-Besitzer brachte eine ganze Wagenladung Äpfel vorbei und freute sich, dass er helfen konnte.
Monti sagte mal, er habe einen Traum: Wenn er im Lotto gewinnt, dann kauft er für alle eine Hazienda, ein großes neues Zelt und viele Tiere.

Die Aufnahmen entstanden von Oktober 2013 bis März 2014, in dieser Zeit starb auch die alte bettlägerige (Prinzipalin) Mutter. Dadurch fielen ca. 1500 Euro Pflegegeld weg. Geld, das dann nicht mehr zur Verfügung stand. Ein halbes Jahr dauert die Trauer, in dieser Zeit gibt es kein Fernsehen und keine Musik. Früher wurden auch keine Vorstellungen gegeben. So wollte es die Tradition.

Nach dem Winter zogen sie weiter nach Gladbeck auf eine große Wiese hinter einem leerstehenden Möbelhaus, das aussah wie ein alter Hochbunker, in Sichtweite einer Moschee. Das Viertel wurde überwiegend von Türken bewohnt. Monti hatte die Erlaubnis von der Stadt, ein paar Plakate aufzuhängen. Dementsprechend war auch die Resonanz. Von drei Tagen Vorstellung, jeweils zwei an einem Tag, kam am ersten Tag auf Grund einer Ermäßigung ein halbwegs volle Vorstellung zustande. An den restlichen Tagen kam niemand mehr. Sie sagten: Von 1000 Mal Zeltaufbauen waren 800 Mal umsonst.

Die finanzelle Situation war dramatisch. Man brach die Zelte ab und zog weiter in die Nähe von Kevelaer. Hinter einer Neubausiedlung in Waldnähe besuchte ich sie zum letzten Mal. Alles war für die bevorstehende Veranstaltung aufgebaut, und es lag eine große Anspannung auf allen. Kommen Zuschauer, oder wird es wieder nichts. Bis eine halbe Stunde vor Aufführung waren erst ein dutzend Leute erschienen. Die Aufführung wurde eine halbe Stunde verschoben. Endlich kamen sie, Eltern mit ihren Kindern, Omas und Opas mit Enkeln. Ältere Leute, die aus ihrer Jugend noch kleine Circusse kannten und sich auf eine Vorstellung freuten.

Am Eingang wurde von den Frauen Zuckerwatte und Popkorn verkauft, und die Zuschauer konnten dann ihre Plätze einnehmen. Die Vorstellung begann . . .

Und es geschah das Unglaubliche. Alle erschienen ihn ihrer Livrée und waren Circusleute, die dem werten Publikum einen Nachmittag der Sensationen und Illusionen versprachen.
Selbst der Jüngste, der fast ein Jahr nicht als Clown auftreten konnte, wurde mit der Zeit immer mutiger und assistierte seinem großen Bruder nach Kräften.
Zwischen den einzelnen Nummern gab es hinter der Manege immer wieder Manöverkritik und Anweisungen für die nächsten Nummern. Bis zum großen Finale, bei dem die ganze Familie im Rund der Manege versammelt war und sich beim werten Publikum bedankte.

Das Zelt leerte sich und der Herr Direktor gab seinen Söhnen Geld. Sie sollten sofort Futter für die Tiere kaufen. Die Stimmung war heiter und gelöst.

Ich verabschiedete mich.


Für alle, die den Geruch von frischen Sägemehl und Popkorn nicht vergessen haben.

Für alle die noch an Illusionen und Magie glauben.

Für alle die den Circus lieben . . .
© Sämtliche Nutzungsrechte an den abgebildeten Fotografien liegen bei Robert Freise

Weitere Bildserien von Robert Freise im Pixelprojekt Ruhrgebiet