Marc Wollmann

gerade gebogen

Einst flossen die Gewässer unreguliert durch die Emscherregion und traten daher oft über ihre Ufer. Man fügte ihnen in zunehmendem Maße Abwasser zu und sie wurden auf Dauer zu einem Seuchenherd für die wachsende Bevölkerung. Abwasser von der Industrie kam noch hinzu und man sprach fortan kaum mehr von der Emscher, sondern nur noch von der „Schwatten“. Eine Genossenschaft wurde gegründet, die sich dem erkrankten Flussnetz annahm. Der von ihr so genannten „cloaca maxima“. Die Flüsse und Bäche der Region wurden zu einem seinerzeit einzigartigen Netz von offenen Abwasserkanälen umgebaut. Nicht nur weil der boomende Bergbau durch die mit ihm verbundenen Bergsenkungen eine unterirdische Kanalisation verhinderte, sondern auch weil dadurch ein geregeltes Fließen der Gewässer kaum noch möglich war. Die sogenannte „Vorflut“ kam aus dem Gleichgewicht und somit leiten fortan, immerhin seit mehr als einem Jahrhundert, kraftstrotzende Konstrukte aus Beton und Stahl das Abwasser durch die Stadtlandschaft und regeln neben der „Vorflut“ vielerorts auch die Klärung des Wassers. Von Moos besetzte Bauten, die mittlerweile Metaphern für das Verlangen nach Renaturierung und somit für ihren eigenen Rückbau geworden sind. Sie erfüllen unbemerkt ihre Pflicht. Nun, da die Ökonomie die Montanindustrie weitestgehend beendete und der „Berg“ sozusagen „ruht“, werden sie zurückgebaut. Eine ungeschönte Visualisierung regionaler Industriegeschichte verschwindet daher nun nach und nach. Abwasserkanäle werden wieder zu Bächen und Flüssen umgebaut, sie werden zu attraktiven Wasserläufen. Künftig bieten sie an ihren neuen Ufern zusätzlichen Erholungsraum für die Bewohner der Emscherregion. So Mancher hat den strengen Duft gerochen, den ihm der nahe „Kötzeck“ entgegen stieß, so manche Mutprobe wurde an der „Köttelbecke“ bestanden. Vermissen muss man sie nicht, diese namenlos gewordenen Bäche. Vergessen allerdings auch nicht. Bei einem Blick ins Bildarchiv der Emschergenossenschaft ist mir das klar geworden. An Hand von Fotografien aus den 50er Jahren, die die Herzen der Ingenieure, die damals mit dem Bau dieser Anlagen betraut waren, sicherlich haben höher schlagen lassen. Die Bilder sind noch heute beeindruckend. Ebenso die Bauten selbst und somit auch Fotografien, die man heute, vielleicht zum letzten Mal, von ihnen machen kann. Obwohl die Bauten nicht zum Anschauen konzipiert wurden, haben sie eine ganz spezielle Anmutung, sie wirken nämlich nicht so, als seien sie nur zweckmässig gestaltet worden. Sie erzeugen bei konzentrierter Betrachtung, wie sie mittels Fotografie möglich wird, Erstaunen, Verwunderung und eine merkwürdige, unterschwellige Melancholie. Teilweise wirken sie skurril, absurd und rational zugleich, manchmal alles nacheinander oder auch nichts von alledem. Das macht sie für mich so spannend und damit fotografisch erhaltenswert. Die Natur zwingt den Menschen zur Architektur, der Mensch bezwingt die Natur durch Architektur, der Mensch beseitigt Architektur und wünscht sich ein Stück Natur zurück. Ein gedachter Dreisatz, der bei dieser Arbeit mitschwingt.
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