Thomas Wolf

Die Seseke - Entdeckung eines Flusses

Bei einem der ersten Bilder, die mir Thomas Wolf zur Vorbereitung der Ausstellung übermittelte, kam mir eine Kindheitserinnerung wieder in den Sinn: Mein Onkel war Knappschaftsarzt in Altenbögge-Bönen und wohnte dort am Deich des Rexebachs. Mit dem Fahrrad sind meine Cousinen, Cousins und ich öfter den Rexebach entlang zur Mündung an die Seseke gefahren. Da ich eher unsportlich war und nicht besonders gut radelte, wurde ich immer wieder ermahnt, nur ja nicht in den Bach oder in die Seseke zu fallen – das sei sofort tödlich. So etwas bleibt im Ge-dächtnis haften, und es ist eine der schönsten Aufgaben der Fotografie, derartige Erinnerungen hervorzurufen. Diese Aufgabe hat sie sogar der Kunst voraus.
Als wir unsere Radtouren unternahmen, gab es noch Industriefoto-grafen, eine heute ausgestorbene Spezies. Diese Spezialisten nahmen mit demselben Stolz jene Betonbauten auf, wie Thomas Wolf heute die Rena-turierung ablichtet. Und es ist sehr wichtig, dass wir diese frühen Foto-grafien ebenso archivieren, erhalten, erschließen und für spätere Zeiten aufbewahren wie die wunderbaren Bilder, die Thomas Wolf heute zeigt. Mir ist der Wandel schmerzhaft bewusst geworden, als ich an einer Aus-stellung und Katalogproduktion zur Zeche ZollvereinXII in Essen beteiligt war, während diese in das Weltkulturerbe der UNESCO eingetragen wurde: Es war bereits schwierig, wirklich gute Fotografien des Baues von Fritz Schupp und Martin Kremmer zu bekommen – und das, obwohl die Architekten die besten Fotografen ihrer Zeit beauftragten.
Thomas Wolf ist nun kein Industriefotograf mehr, sondern ein post-industrieller, sogar ein post-fotografischer Fotograf, denn die Fotografie hat längst ihre Rolle als wichtigstes Transportmittel visueller Informatio-nen an das Fernsehen, das Internet und einige andere Medien abgegeben. In diese neueren Medien werden Fotografien zwar eingespeist, aber sie sind im Gebrauch dann keine Fotografien mehr, sondern visuelles Halbzeug zur weiteren Nutzung – in so großen Mengen, dass wir Men-schen uns eher vor zu vielen Bildern schützen müssen als vor zu wenigen. Als ich Thomas Wolf 1990 kennen und schätzen lernte, war er Student der ältesten deutschen
Als ich Thomas Wolf 1990 kennen und schätzen lernte, war er Student der ältesten deutschen Kunstakademie, der Hochschule für Grafik und Buch-kunst in Leipzig. Er besuchte die älteste deutsche Klasse für künstlerische Fotografie, die 1913 für den damals sehr berühmten Portraitkünstler Frank Eugene Smith eingerichtet wurde und den schönen Titel »Klasse für Naturfotografie« trug. Damit war beileibe nicht gemeint, dass die Studie-renden – Frauen waren von Anfang an zugelassen – nur Bilder von Land-schaften, Blumen, Bäumen und Blättern herzustellen hatten, sondern es sollte draußen vor Ort, in Natur und Stadt, in Werkstatt und Industrie fotografiert werden. Aber die Ergebnisse sollten Kunst sein, kein Ge-brauchsmaterial, kein Handwerk – mindestens Design.
Vielleicht kann Kunst nicht gelehrt werden, aber wer eine Schule
wie die Leipziger absolviert hat, kann sich mit Recht Künstler nennen, Thomas Wolf allemal. Seine Bilder sind zunächst Kompositionen – vollkom-men gleichgültig gegenüber der Art ihrer Herstellung: ob als Zeichnung, Radierung, Gemälde, Skulptur oder eben Fotografie. Die großen Bilder von der Seseke führen diese Qualität als Kunst eindrücklich vor, sie sind nahezu abstrakt, formal fest im Repertoire von Thomas Wolf verankert. Selbst bei Gegenständen, von denen man es nicht erwartet – und eine Flussregulierung gehört sicher dazu –, findet man mitten im Bild eine größere Fläche, fein austariert und in die räumliche Komposition als Gegen-pol eingefügt. Bei näherem Hinschauen mag es sich um banale Dinge wie ein Stück Agrarfolie oder einige Quadratmeter frisch gemähten Rasens handeln, doch diese Erkenntnis verschwindet schnell hinter der Freude an der gefundenen und erkannten Form.
Wie nur wenige der heutigen Fotografen differenziert Thomas Wolf die Größe seiner Bilder sehr genau – für manche Sujets können die Auf-nahmen kaum groß genug sein und sind nur technisch oder ökonomisch begrenzt, bei anderen darf eine relativ kleine Größe nie überschritten werden. Aber selbst an die größten Bilder dieser Ausstellung kann man nah herangehen und wird immer wieder neue Seh-Erfahrungen machen. Viele Bilder zeigen Verschiebungen der Perspektive und den Fluchtpunkt nicht direkt, sondern lassen alle Linien vorher abknicken. Das Auge der Betrachter wird in das Bild hinein- und gleich wieder hinausgeführt; es steht wieder am Anfang seiner Betrachtung und nimmt ein weiteres Mal denselben Weg, alles in den 7/10Sekunden der ersten Wahrnehmung. Nachdem das Auge diesen Weg drei Mal passiert hat, wird man als Betrachter das Gefühl nicht los, vor einem besonders guten und interessanten Bild zu stehen, ohne dass man eigentlich weiß, warum das so ist. Doch nicht allein der formale Aspekt ist es, der die Bilder von Thomas Wolf zum Verlauf der Seseke zur Kunst macht; das Moment der Erinne-rung gehört ebenso dazu.
In den 1990er Jahren war Thomas Wolf Teil eines großen Projekts, heute sind seine Bilder Teil einer großen Sammlung in Leipzig: Neun Jahre lang wurden dort Bilder der industriellen Anlagen und Wohngebiete Ost-deutschlands gesammelt, alles Aufzeichnungen einer Welt, von der man wusste, dass sie bald unterginge. In den letzten beiden Jahren dieses Projekts erhielten eine Reihe von Künstlern, unter ihnen Thomas Wolf, den Auftrag, alte Standorte ihrer früheren Fotografien wieder aufzusuchen und erneut aufzunehmen. Das Ergebnis war vorhersehbar, aber dennoch frappant: Oft gelang es den Künstlern nicht einmal, ihre Per-spektiven wiederzufinden – die Referenzen waren verschwunden. Wer alte Fotografien der Seseke-Eindeichung aus den 1930er Jahren sieht und mit den Bildern von Thomas Wolf vergleicht, der wird ähnliche Erfahrun-gen machen. Umso spannender muss es sein, den heutigen Zwischen-zustand mit der endgültigen Renaturierung der Seseke in rund zehn Jahren zu vergleichen.
Es macht die Qualität der Bilder von Thomas Wolf aus, dass er diesen Prozess an der Seseke mit Bildern begleitet, die sich auf Kompositions-formen der niederländischen Landschaftsmalerei des 17.Jahrhunderts beziehen, einer eminent bürgerlichen Malerei für ein Volk, das neben dem Gemeinwohl auch das private Glück zu schätzen wusste. Die gleichen Kompositionsformen finden sich bei Ansel Adams, dessen amerikanische Landschaften in jedes Büro eines Ölmagnaten, selbst in den Fernsehserien, die dies nur darstellen, gehörten. Auch dort kann man mit heutigen Augen wieder die abstrakten Formen einer rein flächigen Kom-position finden, die Kunst bleibt hier tatsächlich zeitloser als ihr Sujet.
Genau dasselbe gilt für die kleinformatigen, quadratischen Bilder von Thomas Wolf, die in dieser Ausstellung zu sehen sind: Hier wird das Repertoire einer künstlerischen Fotografie wieder aufgenommen, das in den 1950er Jahren aus allen natürlichen Formen abstrakte Strukturen machte. Klärschlamm und Beton, Sand und die Mäander eines noch nicht ganz renaturierten Nebenbachs der Seseke bieten einen reichen Vorrat an Bildformen, die nur noch gesehen, fotografiert, vergrößert, präsentiert werden müssen und dann zur Betrachtung freigegeben sind. In diesen Bildern wird der Blick durch das Quadrat nur begrenzt, nicht gerichtet. Es gibt kein Oben und kein Unten, kein Vorn und kein Hinten, alle Elemente eines Bildes sind gleich wichtig.





Hier wird die Farbe noch mehr als in den großen Bildern, wo sie eher alte Formqualitäten zitiert, zum eigenständigen Element der Komposition, jenseits der Erinnerung an romantische Vorgaben von Himmelsblau über Grasgrün bis zum Sandgelb. Indem Thomas Wolf mit dieser Farbig-keit von früheren Industriebildern abweicht, indem er die Bildfläche selbst zum Thema der Komposition macht, betont er seine Autonomie als Künst-ler gegenüber dem abgelichteten Objekt: Fotografie repräsentiert nicht mehr allein das Abgebildete, sondern ist Kunst in sich selbst.
Doch Kunst ist sich nicht mehr selbst genug, sondern hat seit einiger Zeit wieder eine gesellschaftliche Funktion, wie die letzte ›documenta‹ deutlich vorgeführt hat: Zur landschaftlichen, wassertechnischen Ökologie der Seseke-Umgestaltung trägt nun auch die Wissensökologie eines engagierten Künstlers wie Thomas Wolf bei. Er weist uns mit seinen Bil-dern auf Formen hin, die unseren Blick sowohl für die neue Landschaft als auch für ihre grundlegenden Qualitäten schärfen, und die uns obendrein noch die Freude einer sinnlichen, ästhetischen Erkenntnis verschaffen. Er vollendet damit, was die Planer einer Gewässerumgestaltung begonnen haben – die Gewinnung von Lebensqualität.

Rolf Sachsse
© Sämtliche Nutzungsrechte an den abgebildeten Fotografien liegen bei Thomas Wolf

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