Wolfgang Staiger

Bergarbeiter

Die Mythen des Ruhrgebiets sind geprägt von Kohle und Stahl, von der Arbeit am Hochofen und im Stollen, von einer Landschaft aus Kohlebergen und rauchenden Schloten, von dem Umgang mit Brieftauben und Stallkaninchen. Und zu jedem Mythos haben wir ein Bild vor Augen, das im Sinne eines kollektiven Gedächtnisses für viele das gleiche ist.
Wer kennt nicht das Bild des „schwarzen“ Mannes mit leuchtend weißen Augen: des Heroen, der unter Tage zieht, um für uns das „schwarze Gold“ den Tiefen der Erde zu entreißen? Wer kennt nicht das Bild des gemeinsamen Waschens oder „Buckelschrubbens“ in der Kaue? Wer nicht das Bild des „Taubenvatters“, der nach getaner Arbeit seinen Vögeln beim gemeinsamen Flug über die Kolonie nachsieht?
Wir haben diese Bilder vor Augen, ohne sie je selbst gesehen zu haben. Wir kennen sie von Fotografien. Und wir kennen sie durch die Arbeit von Wolfgang Staiger, der 1973 ins Ruhrgebiet kam, um hier bei Otto Steinert an der Folkwangschule Fotografie zu studieren. Als Steinert 1975 seinen Studenten unter anderem die Aufgabe „Schichtwechsel“ stellte, fuhr Wolfgang Staiger ein ins Bergwerk Fürst Leopold in Dorsten und betrat damit eine für ihn bislang fremde Welt. In nur zwei Tagen schuf er Bilder, die unsere Vorstellung von Bergmannsarbeit prägen sollten. Das bildnerische Erzählen von menschlichen Geschichten wurde das Spezialgebiet von Wolfgang Staiger, ob es nun um die Heizer von Dampflokomotiven oder um den Schäfer in der rauen schwäbischen Alb ging. Der stern, der damals noch das wichtigste Organ für hervorragende Reportage- und Autorenfotografie war, wurde sein Kunde, Auftraggeber und Kooperationspartner. Als er 1979 einen umfangreichen Auftrag für eine Reportage über das Bergarbeiterleben im Ruhrgebiet bekam, führte er fort, womit er Jahre zuvor begonnen hatte. Staiger fuhr wieder ein, diesmal ins Bergwerk Haard in Oer-Erkenschwick, kletterte auf Kokshalden in Oberhausen, besuchte Bergarbeitersiedlungen in Recklinghausen-Süd und folgte den Knappenvereinen in Herne und Altenessen.
Der stern machte daraus eine große Geschichte und Deutschland erfuhr von seinen Bergarbeitern, deren Arbeit und Freizeit. Nach Staigers Wahrnehmung beginnt sie um fünf vor zwölf beim Schichtwechsel und endet beim Bergarbeiterbegräbnis. So sah er bereits vor dreißig Jahren das voraus, was inzwischen Realität geworden ist. Es bleiben Dokumente einer vergangenen Epoche, die in den Bildern überlebt hat und vielleicht auch Wehmut entstehen lässt - an den neuen Schreibtischen und Ateliers in der neuen Metropole Ruhr.

Peter Liedtke
© Sämtliche Nutzungsrechte an den abgebildeten Fotografien liegen bei dem LVR-Industriemuseum