Peter Liedtke

Ausnahmezustand - Die Fußballweltmeisterschaft 2006 in NRW

Als mich Peter Landmann fragte, ob ich die Fußball WM in NRW fotografieren wollte, war ich recht überrascht. Fußball gehörte nicht zu den Schwerpunktthemen, mit denen ich mich normalerweise auseinandersetze. Gut als gebürtiger Gelsenkirchener hat man immer auch blau-weißes Schalkeblut in den Adern und als bekennender Ruhrgebietler schlägt das Herz natürlich auch für Borussia Dortmund. Als er mir aber sagte, dass es um das Umfeld der WM geht, um die kulturellen Ereignisse, um die Orte und um die Fans, war meine Neugierde geweckt. Langsam tastete ich mich heran. Kicks & Balances gaben mir einen hervorragenden Einstieg in die Kulturwelt des Fußballs. Filmclips von fußballspielenden Elefanten und Akrobatik von Artisten in einem riesigen Manegenball nahmen mich mit und gaben mir andere Bilder.
Das erste Public Viewing in sengender Hitze war ein Kampf gegen die Temperaturen und eine Suche nach den Leidenschaften. Fußballstrand in Lünen bei 35 Grad. Dann das erste Deutschlandspiel auf den Projektionsflächen des VFL Bochum; zittern und feiern. Massen von Schwarz-Rot-Goldenen Fahnen, wie ich sie das letzte Mal bei der Wiedervereinigung gesehen hatte. Die Stimmung war noch ein wenig verhalten, denn an die großen deutschen Erfolge glaubte noch keiner wirklich.
Dann sah ich sie, diese Fans aus allen Ländern der Erde; Engländer, Mexikaner, Brasilianer, Ghanesen, Portugiesen, Schweden, Japaner, Franzosen, Italiener, Tschechen, Amerikaner, Spanier, Schweizer und Polen. Jedes Mal ein Meer anderer Farben. Und jedes Mal ein Fest der Kulturen und Emotionen. Die Spiele selbst sah ich selten, aber ich sah sie in den Reaktionen der Zuschauer, die Spannung, das Jubeln, das Fluchen und auch die Tränen. Und ich wurde selbst Teil dieser Emotionen, Teil dieses Ohh, Jaah, Neiiin.
Im Umfeld gab es dann immer wieder Kultur. Bands aus allen Ländern der WM Beteiligten gaben eine andere und eine gute Stimmung. Die Lange Nacht der Industriekultur stand im Zeichen des Fußballs und Kunstinstallationen wie in der Deutzer Brücke in Köln ließen mich die (Fußball)Welt auch mal vergessen. Oder war es doch kein Zufall, dass Kugeln und nicht Würfel von der Decke hingen? Die NRW Media Night im Dortmunder Phönix Gelände schaffte andere Begegnungen und NRW in Concert in der alten Wuppertaler Stadthalle ein Ambiente, wie aus einer anderen Zeit. Fußball hat nun mal viele Fassetten und unterschiedlichste Fans.
Dann waren da die Deutschlandspiele. Gruppenerster in der Vorrunde. Dann der Sieg gegen Schweden und der Sieg gegen Argentinien. Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin. Mit jedem Etappensieg stieg die Stimmung und jeder schien sich zu fühlen, als habe er -und häufigst auch sie- das entscheidende Tor selbst geschossen. Ich hatte meine Distanz verloren und war Teil dieses verrückten Geschehens. Ganz NRW war WM. Ich war WM.
Dann das Halbfinale gegen Italien. Es sollte ein großer Tag werden. Doch es folgte die Ernüchterung. Tränen, Wut, Schmerz, Verzweiflung. Am nächsten Tag aber wieder Realitätssinn. Das deutsche Team war wesentlich weiter gekommen, als von vielen erwartet und der dritte Platz war immer noch möglich. Und natürlich: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.
Deutschland wurde Dritter und Italien Weltmeister und die WM ein Erlebnis im Ausnahmezustand.

Ich bin froh dies gesehen, fotografiert und erlebt zu haben.
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