Andreas Ren

Anatomie – Transformationen eines Subjekts

...Blicke in öffentliche und nicht-öffentliche Räume
Andreas Ren setzt sich in seiner künstlerischen Arbeit mit Räumen auseinander, die durch öffentliche Funktionen bestimmt sind. Im fotografischen Zyklus „reibungslos“ zeigt er etwa architektonische Situationen – die Rolltreppen einer U-Bahn-Station, einen Waschsalon, ein hochweiß glänzendes Parkhaus –, die kaum im Hinblick auf Aufenthaltsqualitäten gestaltet sind, vielmehr „reibungslos“ als Durchgangs- oder Warteräume zu funktionieren haben. Ohne jede Spuren von Abnutzung, Dreck oder Vandalismus, menschenleer, ohne Hinweise auf den konkreten Ort oder die Zeit der Aufnahmen verharren sie in einem Zustand des Nirgendwo und Überall gleichermaßen. Die aseptisch reinen Bilder gefrieren zu Ikonen der modernen Kommunikationsgesellschaft, die sich ja gerade durch den Mangel an Austausch, durch nicht stattfindende Kommunikation zwischen den Subjekten auszeichnet. Andererseits transformiert der Zweckraum sich zu einem Ort des Innehaltens, der Ruhe und der Meditation, vielleicht gar der Läuterung. Der mental durchlebte Aufstieg über die U-Bahn-Rolltreppe, das Ritual des Wäschewaschens gerät – auf einer symbolischen Ebene der Betrachtung – zum Sinnbild der Einkehr und des Wandels. Die Anatomie der Ruhr-Universität Bochum, in der die Aufnahmen zum Zyklus „Anatomie. Transformationen eines Subjekts“ entstanden sind, können hingegen kaum als „öffentliche Räume“ wahrgenommen werden. Dem öffentlichen Zugang verwehrt, war es gerade für den Fotografen nur mit sehr viel bürokratischem Aufwand und Überzeugungskraft möglich, an diesem „verbotenen Ort“ überhaupt arbeiten zu dürfen, hierüber die fast schon sakrale Abgeschlossenheit des Raumes ins Bild zu setzen und, zumindest für einen Augenblick, auch zu durchbrechen. Die eigentlichen Akteure dieses Sektors wissenschaftlicher Exklusivität – Professoren, Ärzte und Studenten – bleiben dabei unsichtbar.

Die ewige Wiederkehr des Subjekts
Andreas Ren nähert sich dem Ort in einer akribischen Spurensuche an. Jeweils in nüchternen Schwarz-Weiß-Aufnahmen charakterisiert er den weiß gekachelten industriell anmutenden Raum. Er fokussiert den Schlüssel, der uns die Abgeschlossenheit dieses Ortes vor Augen führt. Er zeigt die Dinge, die auf das Geschehen in diesen Räumen schließen lassen: aufgehängte Kittel, eine Pumpe zum Absaugen von Blut, Wannen, Schneide- und Sägegeräte. Dann sehen wir aber auch Tafeln mit unverständlichen Fachtermini, aufgereihte Skelette, die uns den Kontext des medizinischen Studiums vergegenwärtigen. Große metallische, schrein- oder sargartige Behältnisse, mit Rohren an ein Kühlsystem angeschlossen, stellen den eigentlichen Sinn dieses Ortes dar: das Aufbewahren von Leichnamen in einem Stadium zwischen Tod und Beerdigung, die Verzögerung des Verwesungsprozesses zu Zwecken der wissenschaftlichen Betrachtung, das Konservieren des Körpers, um über dessen Studium möglicherweise das eigene Leben zu verlängern. Im Verlauf des fotografischen Zyklus’ öffnen sich diese metallischen Schreine, die darin aufgebahrten Körper werden sichtbar, zunächst in verschwommener Distanz, dann klarer konturiert, wie ruhend aufgebahrt, friedlich, in ihrer Feingliedrigkeit und in den feinen Nuancen von Licht und Schatten der kühl reflektierenden Umgebung kontrastierend gegenübergestellt. Der Betrachter fühlt sich in eine fast kontemplative Distanz versetzt. Teilansichten des Körpers, der Füße, des Kopfes bewahren die Integrität des Subjekts, in dessen Geschichte wir uns achtungsvoll einzufühlen versuchen. Ein an das Ohr gehefteter Zettel, eine einfache Nummer bewirken dann einen folgenschweren Wechsel der Perspektive: Das Individuum transformiert sich zum anonymen Objekt, das hier eingelagert wurde und bearbeitet wird. Der kahl rasierte Schädel, aufgesägt, bloßgelegte Muskulatur, ein durch eine Halterung hochgehaltener, gehäuteter Arm reduzieren den Leichnam zum Gegenstand, der uns nicht über seine Vergangenheit als Mensch, vielmehr über unsere materielle und substanzielle Beschaffenheit als Leib Aufschluss gibt. Doch selbst der sezierte Körper führt uns auf das Mysterium zurück. Es verblasst der Ekel gegenüber dem aufgerissenen und bloß gelegten Innenbild des Körpers, denn gerade hierdurch offenbart sich uns die komplexe Struktur der Sehnen und Muskeln, die Anmut einer zerbrechlichen, behutsam gestützten Hand. Das nüchterne Interieur, die an die Tafeln geschriebenen Begriffe und die Gerätschaften, die uns Schmerz assoziieren lassen, und die hier aufgehobenen Leichname verharren in einem Widerstreit, der sich im Verlauf des Zyklus’ kaum aufheben lässt. Das im anatomischen Studium zum Objekt transformierte Subjekt stellt in einem Zirkelschluss den Objektivierungsanspruch der Wissenschaft in Frage und wirft uns auf die Einzigartigkeit und Unbegreifbarkeit des Individuums zurück. Der Körper wandelt sich zum memento mori unserer eigenen Sterblichkeit, das jedoch im Angesicht der sterblichen Überreste gerade auch die Unfassbarkeit und Nicht-Rationalisierbarkeit alles Lebendigen zur Anschauung bringt. Der scheinbar dokumentarisch nüchterne Blick des Fotografen auf ein zerknülltes Abdecktuch, dann auf das bereits fast vollständig zerlegte Antlitz eines Verstorbenen scheint schließlich sogar eine christliche Ikonografie zu berühren. Die abschließenden Bilder des Zyklus’, der imaginäre Gang auf den Friedhof stellt die Würde des Leichnams wieder her und führt diesen zurück in den ewigen Zyklus von Werden und Vergehen alles Natürlichen.

Dr. Christoph Kivelitz, Kunsthistoriker, Dortmund
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